Heimatverein Egestorf e.V.

Neues Hannöverisches Magazin, 35tes Stück
Montag, den 2ten Mai 1803 und Freitag, den 6. Mai 1803 (Spalte 545 bis 566)

Welchen Einfluß hat der häufige Genuß von Kartoffeln auf die menschliche Constitution?

Einige Data zur Beantwortung dieser Frage aus den Registern des Kirchspiels Egestorf
im Fürstenthum Lüneburg.

 

Hermann Heinrich Friedrich Lentin, von 1796 bis 1804 Pastor in Egestorf, befasste sich im Jahr 1803 mit den Lebens- und Ernährungsgewohnheiten der Bewohner des Kirchspiels und schrieb hierüber einen umfassenden Bericht, der im ‚Neuen Hannöverischen Magazin‘ veröffentlicht wurde. Dieser wurde von Johann Grote vor einigen Jahren übertragen. Pastor Lentin war davon überzeugt, dass der große Verzehr von Kartoffeln sich auf die Gesundheit und auch auf die Geburtenrate auswirkte. Er berichtete unter anderem:

„Es ist der Zweck dieses kleinen Aufsatzes nicht, den Kartoffeln eine Lobrede zu halten, die sie in so mancher Rücksicht verdienen, sondern vielmehr einen Beitrag zur Bestimmung der Frage zu liefern: Ob ein häufiger Genuß derselben der menschlichen Natur zuträglich oder nachteilig sei? Bekanntlich fanden die Kartoffeln bei ihrer ersten Erscheinung nicht allenthalben eine vorzügliche Aufnahme. An manchen Orten hielt man sie anfänglich nur gut für das Vieh und verwarf sie gänzlich als menschliche Nahrung. Erst nach und nach änderte es sich damit, man gewöhnte sich an den Genuß derselben und gewann sie zuletzt lieb.

Nachdem nun ein halbes Jahrhundert verflossen ist, seitdem die Kartoffeln auch in unsern Gegenden häufig gebaut und zur Nahrung der Menschen angewandt worden sind, so ist es wohl der Mühe wert, zur nähern Bestimmung jener Frage die Erfahrung zur Rate zu ziehen und ihre Resultate anzuhören. Die Gegend, wo der Verfasser lebt, scheint in mancher Rücksicht besonders dazu geschickt zu sein, einige Data über diesen Gegenstand zu liefern. Hier machen die Kartoffeln nicht nur die Hauptnahrung der Bewohner aus, sondern diese führen auch bei einer gesunden Lage und bei vieler Moralität ein arbeitsames und frugales Leben. Nach dem Zeugnis alter Leute aus diesem Kirchspiel wissen sie es sich noch sehr gut zu erinnern, daß bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts der Zeitpunkt eingetreten sei, wo man angefangen habe, die Kartoffeln häufig als Nahrungsmittel für Menschen zu gebrauchen. Vor dieser Periode lebte man mehr von Gewächsen,als Wurzeln, Rüben und Hülsenfrüchten. Die letzten sind jetzt fast vergessen und die ersten liebt man nur in sofern, als sie dazu dienen, den Kartoffeln einen angenehmen abwechselnden Nebengeschmack zu erteilen. Die Gärten des Landmanns sind daher in diesen Gegenden größtenteils Kartoffelngärten geworden.

Unter diesen Umständen sind die Kartoffeln die Hauptnahrung des hiesigen Landmanns geworden, die zweimal des Tages gewiß, oft bei allen seinen drei ordentlichen Mahlzeiten eine Hauptschüssel ausmachen. Des Mittags ißt er sie mehrenteils als Gemüse bereitet, des Abends mit der Haut im Wasser gekocht und des Morgens in Scheiben zerschnitten und gebraten. Nur das Mehl von Buchweizen, als Klümpe oder Pfannkuchen bereitet, unterbricht dann und wann diese fortwährende Reihe von Kartoffelngerichten. Fleischspeisen genießt der hiesige Landmann nur sehr mäßig, und was er davon genießt, ist gepöckelt oder geräuchert, frisches Fleisch kommt selten anders auf seinen Tisch als zur Schlachtezeit und bei festlichen Gelegenheiten. Bei seinen Mahlzeiten genießt er statt der Suppe, wenn er es haben kann, saure Milch, in welcher warm geröstetes Brot gekocht wird. Sein tägliches Getränk ist Wasser, der Kaffee ist noch nicht in allen Haushaltungen bekannt und im Gebrauch, aber die Consumtion des Branntweins als tägliches Getränk nimmt auch hier immer mehr und mehr zu.“

Pastor Lentin berichtet weiterhin ausführlich über Krankheiten und Sterblichkeit im Zeitraum von 1756 bis 1800 und listet mit genauen Zahlen auf, an welchen Krankheiten die Bewohner von drei Kirchspielen starben und vermerkte, dass er einen Vergleich zwischen den letzten und ersten fünfzig Jahren des vorigen Jahrhunderts anstellte, wo die Kartoffeln entweder gar nicht oder nur sehr wenig bekannt waren. Er stellt auch fest, dass die Anzahl der totgeborenen Kinder beträchtlich zugenommen habe und die Sterblichkeit von Kindern in den letzten 50 Jahren merklich größer gewesen sei. Er listet 29 Krankheiten auf, an denen die Bevölkerung überwiegend starb, hier die ersten sechs Positionen:

Brustkrankheit (Auszehrung/Lungentuberkulose) 77 männl. 50 weibl. = 127
Blattern (Pocken)                                                40            42           = 82
Alter, ohne weitere Bestimmung                          33            46           = 79
Schwindsucht (Tuberkulose)                               43            35           = 78
Schürken
(Kinderkrankheit - Zahnkrämpfe, Fieber, Epilepsie) 30          16           = 46
Ruhr (Durchfall)                                                 26             17           = 43


Weiterhin schreibt er: „Die Fruchtbarkeit der Ehen hat in den letzten 50 Jahren etwas zugenommen. In diesen Gegenden sind die Ehen überhaupt genommen nicht sehr fruchtbar und geben im Ganzen noch nicht 4 Kinder für jede Ehe“ und über das Lebensalter: „Das Leben der Menschen im Durchschnitt genommen hat in den letzten 50 Jahren etwas verloren. In den 30 Jahren von 1721 bis 1750 gibt die mittlere Lebensdauer hier 37 Jahre. In den letzten 50 Jahren hingegen hat jeder der Verstorbenen sein Alter im Durchschnitt nur auf 36 Jahre gebracht. Im Laufe des Jahrhunderts hat im Kirchspiel niemand das 90. Lebensjahr überschritten und nur jeder Vierte wurde über 60 Jahre alt.“ (Anm.: Zum niedrigen Durchschnittsalter trug auch die hohe Kindersterblichkeit bei).

Pastor Lentin berichtet auch über den Einfluss des häufigen Genusses von Kartoffeln auf die Geisteskräfte des Menschen und stellt fest, dass Wahnsinn und Geistesverwirrungen immer mehr zunehmen. Wenn der Wintervorrat zu schnell aufgebraucht war, wurden die Kartoffeln im Sommer oftmals zu früh geerntet, manchmal hatten sie im Herbst Frostschäden. Er ist der Meinung, dass diese Umstände auch Auswirkungen auf die Gesundheit haben.

Über Kaffee schreibt er: „Der dritte Umstand ist endlich der immer mehr und mehr zunehmende Genuß des Kaffees. Dieses verführerische Getränk hat schon angefangen, sich in den Hütten des Landmanns einzudringen und drohet auch da, wo es bisher glücklicherweise noch unbekannt war, immer mehr Herrschaft zu gewinnen“. Auch hier ist er überzeugt: „durch die Art, wie er ihn trinkt, schadet er seiner Gesundheit offenbar und dies des Tages zu mehreren Malen genießt, welches auf die Constitution nothwendig nachhteilig würken muß“.

Der Schluss seines umfangreichen Berichtes (6 Seiten) lautet: „Übrigens überlasse ich es einsichtsvollen Lesern, diese mitgetheilten Data zu würdigen und weitere Schlüsse daraus herzuleiten. Mein Wunsch war, jene Angaben mit möglichster Genauigkeit zu sammeln und andere zu ermuntern, durch ähnliche Beiträge die gefundenen Data zu berichtigen oder zu bestätigen.“

Wer am vollständigen Artikel Interesse hat, kann ihn zur Öffnungszeit des Archivs im Dresslers Hus gerne einsehen oder auch eine Kopie hiervon erhalten (mittwochs 15-17 Uhr).

 

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