Heimatverein Egestorf e.V.

Das Arzthaus (Doktorhaus) und ärztliche Versorgung in Egestorf

In früheren Jahrhunderten gab es auf dem Land so gut wie keine ärztliche Versorgung. Pastor Wilhelm Bode schrieb 1908 rückblickend: „Nun war seit Jahr und Tag der Wunsch in der Gegend geworden, doch einmal den Versuch zu machen, einen Mediziner in den Bezirk zu bringen. Durch Gewährung von Zuschüssen gelang es uns auch einige Male, junge Doktoren zu bewegen, sich wenigstens versuchsweise hier niederzulassen, aber neben anderen Unzuträglichkeiten fiel die leidige Wohnungsfrage so alle Bewerber entmutigend ins Gewicht, dass die Generalversammlung die Bereitstellung einer Arztwohnung auf Kosten der Kasse (gemeint ist die Spar- und Darlehnskasse Egestorf) beschloss.“

Das Vorhaben wurde bald in die Tat umgesetzt, ein Grundstück an der Schätzendorfer Straße erworben. Die Parzelle wurde von Hof Nr. 10 (Rieckmann, heute Marquardt) abgetrennt, damals war sie noch außerhalb des Ortes gelegen. Der Bauantrag wurde am 9.3.1907 eingereicht. Bereits am 16.3. mahnte Pastor Bode die baldige Erledigung an: „Sie wissen ja, wie unglücklich der moderne Mensch ohne einen Medizinmann ist, und ehe wir nicht eine standesgemäße Wohnung schaffen, ehe kommt die Geschichte zweifelsohne nicht zur Ruhe.“ Die Genehmigung wurde schnell erteilt, und das Haus war zum 1. Oktober 1907 bezugsfertig. Die Bauabnahme erfolgte durch den Ortsgendarmen Linkogel! Aber es erwies sich als schwierig, einen Arzt zu finden. Die Gemeinde inserierte in einigen Zeitungen, unter anderem in den ‚Lüneburgischen Anzeigen‘: Junger Arzt findet sofort Praxis in Egestorf im Lüneburgischen. Station der Kleinbahn Winsen a. d. Luhe - Evendorf. Näheres durch den Gemeindevorstand. Das Haus stand jedoch noch zwei Jahre leer. Der Aufsichtsrat der Spar- und Darlehnskasse überlegte, was mit dem Gebäude, das fast 9.000 Mark kostete, geschehen sollte. Er entschied, dass das Haus verkauft werden sollte, wenn möglich, an den Vorbesitzer des Grundstücks.

Kantor Heinrich Schulz berichtet in der Egestorfer Chronik über die Ärzteversorgung: „Vor Erbauung des Doktorhauses waren bereits 3 Ärzte in Egestorf, welche aber wegen des Mangels einer passenden Wohnung nicht lange hierblieben. Der erste war Dr. Lange (1904), er wohnte bei Gastwirt Soltau, früher Schiffsarzt gewesen, war er ein sehr aufgeregter Charakter (Anm.: Er beschwerte sich u. a. über den Lärm der Kegelbahn und regte sich darüber auf, dass Pastor Bode eine Russin mit ehemals orthodoxem Glauben zur Frau hatte). Der zweite Arzt hieß Knauer, ein sehr geschickter Arzt, eigentlich Nervenarzt. Der dritte, Huhmann, wohnte bei Wohlgemuth. Er brachte eine weibliche Person, angeblich seine ‚Milchschwester‘, mit nach Egestorf. Bald wurde es hohe Zeit, dass er seine ‚Milchschwester‘ heiratete. Zur Hochzeit waren Pastor Bodes und wir geladen. Den Hochzeitsbraten servierte die merkwürdige junge Frau selber. Ich hielt Dr. Huhmann, der ausgezeichnet begabt war, für morphiumsüchtig. Er ist bald irgendwo in Süddeutschland gestorben, nachdem er vorher noch in Lüneburg versucht hatte, eine Praxis zu gründen.“

1909 gelang es doch noch, einen Arzt zu finden. Dr. Otto Schild, ein Witwer mit sechs unmündigen Kindern aus der Nähe von Oldenburg, kam nach Egestorf. Der Vertrag wurde am 26. Mai 1909 unterschrieben. Dem Arzt wurde zusätzlich ein Jahreszuschuss von 720 Mark zugesagt, das war mehr als das Gehalt des damaligen Rendanten Leopold Müller. 1913 heiratete Dr. Schild die älteste Tochter von Pastor Bode, Dagmar. Er war aber mit ihrer Wahl nicht einverstanden. Die beiden bekamen zwei Kinder, Gerd (1914) und Etta (1916).

1914 zog Dr. Schild als Stabsarzt in den Krieg. Als er Ende 1918 zurückkam, erhielt er den Titel ‚Sanitätsrat‘. Durch seine lange Abwesenheit hatte er viele Patienten verloren, und so nahm er ein Angebot in Schneverdingen an. Dort praktizierte Dr. Schild bis 1936.

Am 1.2.1919 trat Dr. August Witte seinen Dienst in Egestorf an. Er erhielt jetzt einen jährlichen Zuschuss von 1.200 Mark, der dann bei der fortschreitenden Inflation bedeutungslos wurde. 1932 bot die Spar- und Darlehnskasse Dr. Witte das Haus für 10.000 Reichsmark zum Kauf an, er nahm das Angebot aber nicht an und erwarb 1933 das Gebäude vom Robert-Laurer-Verlag an der damaligen Bahnhofstraße (heute A. Bornemann). Das Doktorhaus wurde an den Elektriker und Fotografen Helmut Linkogel und an Willi Kabell vermietet, der hier eine kleine Buchhandlung und Papiergeschäft einrichtete. Seine Frau führte es bis in die 1960er Jahre weiter.

Dr. Witte zog 1937 mit seiner Familie aus Egestorf fort, und so war die Gemeinde wieder ohne ärztliche Versorgung, die nächsten erreichbaren Ärzte praktizierten in Salzhausen und Hanstedt. Nach Kriegsende kam 1945 der aus dem Osten vertriebene Arzt Dr. Rakowski für kurze Zeit nach Egestorf, konnte aber nicht ins Doktorhaus, da es außer den beiden Mietern noch mit Flüchtlingen bewohnt war. Anschließend kam 1946 Dr. Kurt Rickmann nach Egestorf, er praktizierte hier erfolgreich bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1975. Er führte seine Praxis bis 1952 in der ehemaligen Lehrerwohnung der Schule, dann zog Familie Linkogel in die Schule und Familie Rickmann wohnte nun im Doktorhaus. Familie Kabell konnte das Geschäft und eine kleine Wohnung im Obergeschoss behalten.

Die Spar- und Darlehnskasse beschloss Ende der 1950er Jahre, das Doktorhaus aus Kostengründen aufzugeben. Sie erhielt ein Grundstück von Familie Wienecke, die im Tausch dafür das Haus erhielt. Dr. Rickmann baute eine neue größere Praxis am Döhler Kirchweg. An der Schätzendorfer Straße blieb das Geschäft bestehen, in den 1970er Jahren wurde es weiterverkauft, die ‚Egestorfer Felldiele‘ entstand. 2014 wurde das Haus für einen Neubau abgerissen.

 

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