Heimatverein Egestorf e.V.

Streit um das Deutschlandlied

In den „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ vom 1. April 1875 wurde ein Artikel über einen Streit des Egestorfer Pastors Franz Otto Adolf Rautenberg mit dem Küster und Lehrer Jürgen Mencke veröffentlicht. Es handelte sich hier um das Deutschlandlied, das die Schulkinder im Unterricht sangen und dem Pastor angeblich missfiel. Irgendjemand meldete den Vorfall der Zeitung in der damaligen Kreisstadt Harburg, die daraufhin nachfolgenden Bericht druckte:

„Aus dem Lüneburgischen, 29. März. In einem unweit des Garlstorfer Waldes gelegenen Kirchdorfe hatte der Lehrer mit seinen Schulkindern außer andern patriotischen Liedern auch das schöne Lied Hoffmanns von Fallersleben „Deutschland, Deutschland über Alles“ eingeübt und gesungen. Gewiß kann man sich nur darüber freuen, wenn auf solche Weise bei den Kleinen der vaterländische Sinn geweckt und gehoben wird, grade für solche in ansprechenden Weisen componierte Volkslieder ist der kindliche Sinn sehr empfindlich, und die dadurch gewonnenen Eindrücke haften lange über das kindliche Alter hinaus. Nicht so dachte der sehr orthodoxen Anschauungen huldigende Pastor loci. Er erblickte in diesem Liede – man staune – eine Verherrlichung des Götzendienstes, da die christliche Religion vorschreibe Gott über Alles zu lieben. Wer also sein deutsches Vaterland über Alles setze, der treibe Götzendienst. Dieser seiner Auffassung gab der Pastor in seiner Predigt zur größten Überraschung des unbefangenen Theils seiner Gemeinde einen sehr kräftigen Ausdruck. Der Lehrer ließ sich indessen durch diesen geistlichen Zelotismus nicht beirren, sondern fuhr fort, das Lied mit seinen Schulkindern zu singen. Als der Prediger dies erfuhr, vielleicht auch bei der Schulinspektion selbst hörte, fand er sich veranlaßt, dem Lehrer über solche Unbotmäßigkeit die bittersten Vorwürfe zu machen und das Verfahren des Lehrers geradezu als eine Verführung zum Götzendienste zu charakterisieren. - Wir haben diese Geschichte aus der zuverlässigsten Quelle erfahren, sonst würden wir ihr keinen Glauben schenken. Wünschen möchten wir aber, daß der geistliche Herr wegen seines Verfahrens in geeigneter Weise rectifiziert werden möge.“

Über diesen Bericht ärgerte sich Pastor Rautenberg natürlich sehr und antwortete mit folgender Rechtfertigung:
„Dem geehrten Herrn Berichterstatter für das auszeichnende Attribut der Orthodoxie oder Rechtgläubigkeit im Gegensatz zur Falschgläubigkeit zu großem Dank verpflichtet, kann ich doch nicht umhin, denselben auf den Anachronismus der Thatsachen aufmerksam zu machen und erlaube mir deshalb denselben durch Angabe der Chronologie der Thatsachen gehorsamst zu berichtigen:
1. Sonntag, Invocavit, 14. Febr. 1875, sagte der Pastor Rautenberg zu Egestorf ‚unweit des Garlstorfer Waldes‘ in seiner Predigt: „Wenn ein deutscher Liederdichter das Vaterland preiset mit den Worten ‚Deutschland, Deutschland über Alles, über Alles in der Welt‘, so klingt das recht schön, aber im Grunde genommen ist es nichts als eine einfache Lüge. Denn das Himmelreich ist auch in der Welt – oder wollte jemand sagen, daß dem nicht so sei? – Und dies ist größer als das größte Reich der sichtbaren Welt, dies von höherem Werthe als alle Schätze der fünf sichtbaren Weltteile. Wer das Vaterland über alles in der Welt achtet, der zeigt damit, daß er vom Himmelreich nichts weiß und bekundet damit seinen Götzendienst; er gibt als Christ Ärgernis durch die Geringschätzung des ewigen Gutes und des unvergänglichen und unbefleckten Erbes. 2. Kor. VI 1-10 Matth.4, 1-11, insbesondere 8-11.
2. Am Tage darauf wird dem Pastor Rautenberg zu Egestorf gemeldet: „In der Schule ist das Lied gesungen ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘. Was in der Absingung des Liedes unter den obwaltenden Umständen für eine Art von Gesinnung zum Ausdruck kam, war ‚dem unbefangenen Theile seiner Gemeinde‘ eine unleugbare Thatsache. Denn

3. es steht nach Aussage der Kinder fest, daß sie nie zuvor das Lied geübt und gesungen, sondern am 15. Februar 1875 zum allerersten Mal ihnen genannt dictiert, zum Auswendiglernen aufgegeben und zum Eigenthum gemacht ist.

4. Wenn hierin keine Demonstration liegt, dann gibts keine.

5. Bezüglich der Vorwürfe die Bemerkung, daß dem Lehrer direkt Trotz und Verleitung zum Trotze, nicht aber Verleitung zum Götzendienste vorgehalten ist, wenn letztere auch nicht ausgeschlossen sein würde, sobald bei den Kindern ein Verständnis der Worte des Liedes vorauszusetzen wäre. Denn Götzendienst ist und bleibt es, wenn irgend etwas Gott und seinem Reiche gleich oder über dasselbe gesetzt wird. Und das geschieht, wenn das deutsche Vaterland wie Gott über Alles in der Welt gesetzt und geliebt wird.

6. Übrigens würde das Singen bei weitem nicht die Sensation erregt haben, die es erregt hat, wenn, wie behauptet, es früher schon gesungen wäre.
Ich ersuche Sie, geehrter Herr Redakteur, der vorstehenden Berichtigung Ihre Spalten zu öffnen, damit ich nicht genötigt bin, durch das Gericht einer öffentlichen Verbreitung von Unwahrheiten vorzubeugen. Bei künftigen Analogien werde ich dem Falsifikator (der Fälschung) freien Spielraum lassen, da mein Stolz mir verbietet, derartige Einstellungen der Wahrheit auch nur der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen.
Hochachtungsvoll ergebenst, der orthodoxe, das heißt recht- und nicht falschgläubige Pastor Rautenberg zu Egestorf bei Salzhausen unweit des Garlstorfer Waldes.“

Was damals weiter geschah und ob die Gegendarstellung veröffentlicht wurde, ist hier nicht bekannt. Pastor Rautenberg hat sich offensichtlich in Egestorf nicht sehr wohl gefühlt und die Gemeinde nach nur zwei Jahren Amtszeit 1876 verlassen.

 

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